Fakt und Fiktion


 

Thomas von Aquin hat nur sein unvollendetes Werk hinterlassen. Über sich selbst hat er kein Wort geschrieben. Alles was über ihn als Person bekannt ist, wurde von Dritten überliefert. Übereinstimmend wird berichtet, dass er sich an alles erinnern konnte, was er je gelesen hatte. Er hat sich sein ganzes Leben nur mit der Bibel und der Philosophie beschäftigt. Er soll seine Eingebungen direkt von Gott erhalten haben. Sein ungeheurer Appetit ist umstritten. Es gibt kein zeitgenössisches Bild von ihm, alle Darstellungen wurden postum angefertigt.

 

Aus dieser mageren Personenbeschreibung habe ich einen großen, kräftigen Mönch mit fotografischem Gedächtnis gemacht, mit einer Spezialbegabung für Philosophie und Zügen eines Asperger Autisten. Die Eingebungen könnten kleine epileptische Anfälle gewesen sein. (Als Enrica einer Eingebung beiwohnen darf, springt Reginald schnell auf und stellt sich vor Thomas. Was Enrica nicht sehen kann, ist, dass er ihm den Mund abwischt. Thomas ist verwirrt und erschöpft und weiß nicht mehr, was geschehen ist.) Als Dominikaner war er ein Bettelmönch und trotzdem soll er so dick gewesen sein. Vielleicht konnte er kauend einfach besser denken.

 

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Reginald von Piperno, sein socius continuus, war von 1259 bis zum Tode des Thomas von Aquin ständiger Begleiter und Gehilfe. Thomas widmete seinem „teuren Sohn Reginaldus“ das Compendium theologiae. Wie das Verhältnis dieser beiden Männer tatsächlich zueinander war, ist unbekannt. In meiner Geschichte wacht Reginald eifersüchtig über diesen bedeutenden Magister. Ihre Verbundenheit ist aber rein platonisch.

 

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Contessa Enrica ist reine Fiktion. Mit ihr wollte ich eine (tragische) Frauenfigur einführen, die sich ihrer Begabungen gar nicht bewusst ist und auch nicht rebellieren möchte, durch die Umstände aber gezwungen wird, ein Leben zu führen, das nicht „gottgefällig“ ist.

 

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Das Kloster Montecassino wurde im Jahr 529 durch Benedikt von Nursia gegründet. Es ist das Mutterkloster der Benediktiner und besteht bis heute. Thomas von Aquin wurde im Alter von ca. 5 Jahren als „Olbate“ in das Kloster gegeben. Als jüngster Sohn sollte er eine kirchliche Laufbahn einschlagen.

 

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Abt Giovanni ist reine Fiktion. Diese Figur ermöglichte es mir verschiedene Aspekte zu vereinigen. Die familiäre Situation Enricas zu zeichnen, die Verbindung zur Gelehrtenwelt der Kirche herzustellen, aber auch den Unterschied zwischen Benediktinern und Dominikanern anzudeuten.

 

Ebenso sind Lorenzo, Gineva, Rosa und Luca reine Fiktion. Sie dienen dazu, das abstrakte Denken des größten Philosophen des Mittelalters lebendig werden zu lassen.

 

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„Ich kann nicht mehr, denn alles was ich geschrieben habe, kommt mir vor wie Stroh im Vergleich zu dem, was ich gesehen habe und was mir offenbart worden ist.“

Mit diesem Satz soll Thomas von Aquin die Arbeit an seinem Werk beendet haben. Was genau passiert ist, bleibt Spekulation. Einige Historiker gehen davon aus, dass es eine mystische Erfahrung war, was auch Reginald von Piperno in seinem Bericht angedeutet hat. Andere gehen davon aus, dass es ein kleiner Schlaganfall war.

 

Meine Fantasie hat genau in diesem Mysterium eine ganz andere Antwort gesehen.

 

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Das Gedicht des Aristoteles an seinen Freund Hermias, welches der junge Mönch Enrico zufällig aufhebt und lesen kann, dient nicht nur dazu zu erklären, dass Thomas von Aquin niemals eine andere Sprache als Latein gelernt hat. Es ist auch ein erster Hinweis auf die homosexuelle Komponente in der Beziehung zwischen den beiden. Nicht etwa weil Aristoteles und Hermias eine solche Beziehung gehabt hätten, sondern einfach, weil es eine Liebeserklärung von einem Mann an einen anderen Mann ist und weil die alten Griechen ja eine völlig andere Einstellung zur Homosexualität hatten.

 

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Den Brief, den Thomas von Aquin an Margareta von Konstantinopel, Gräfin von Flandern, schreiben soll, gibt es tatsächlich. Lange Zeit war nicht klar, ob man ihm die Antwort auf einen ihrer Briefe tatsächlich zuschreiben kann. Er hat sich wenig Mühe mit der Beantwortung ihrer konkreten Fragen gemacht und ziemlich deutlich zu verstehen gegeben, dass er eigentlich zu beschäftigt sei, um ihren Brief zu beantworten. Das war natürlich ein wunderbarer Einstieg, um sein frauenfeindliches Weltbild zu entfalten.

 

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Als Thomas von Aquin sich entschied in den Orden der Dominikaner einzutreten, hat das seiner Familie gar nicht gefallen. Die Dominikaner waren ein neugegründeter Bettelorden und Thomas sollte doch Karriere bei dem alten und ehrwürdigen Orden der Benediktiner machen. Um ihn umzustimmen, überfielen seine Brüder Rainald und Landulf ihn auf seiner Reise nach Paris und brachten ihn auf das Familienschloss Monte San Giovanni. Dort hielten sie ihn ein Jahr lang fest. Der Legende nach versuchten seine Brüder im Jahr 1244 ihn mit Hilfe eines hübschen Mädchens, einer Dirne, in Versuchung zu bringen. Sie hofften er würde sein Keuschheitsgelübde brechen und wäre dann bereit, den Wünschen der Familie zu folgen. Doch er soll widerstanden haben. Mit einem Schürhaken in der Hand habe er sich ihren Annäherungsversuchen erwehrt und als das Mädchen aufgab, habe er mit eben diesem Schürhaken ein Kreuz an die Wand gemalt und Gott auf Knien und unter Tränen angefleht, ihm das Geschenk ewiger Jungfräulichkeit zu gewähren.

 

Der Thomas von Aquin, wie ich ihn mir vorgestellt habe, war nicht so melodramatisch. Vielmehr hat er in jener Nacht das Wesen der Sexualität erkannt und für diese Erkenntnis hat er Gott auf Knien gedankt. Diese Szene erzählt Thomas in meinem Roman „Der vertauschte Vokal“ dem jungen Mönch Enrico nur kurz und etwas verschämt. In meinem Drehbuchentwurf habe ich diese Szene etwas ausführlicher beschrieben (siehe unten Drehbuchauszug). Die junge Frau, die eine Dirne gewesen sein soll, habe ich bewusst „Sophia“ genannt. Sie bringt ihm die Weisheit, die er in keinem Buch finden kann.

 

Der Schürhaken spielt in jener Nacht, in der er dieser jungen Frau widerstand, eine wichtige Rolle, daher habe ich Thomas auch in der Nacht mit Enrica diese Waffe an die Hand gegeben.

 

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Als Thomas von Aquin im Jahr 1323 heilig gesprochen werden sollte, hatte die Kirche große Schwierigkeiten, die für die Heiligsprechung erforderlichen zwei Wunder zu finden. Sein Leben war schlichtweg zu unspektakulär gewesen. Man erklärte dann die Nacht mit der Dirne, als er ihren Verführungskünsten widerstand, als eines dieser Wunder.

 

Das zweite Wunder hat sich am Ende seines Lebens ereignet. Kurz vor seinem Tod soll er sich gewünscht haben, noch einmal Hering zu essen. Da aber wohl keine Saison für Hering war, waren seine Begleiter untröstlich, ihm diesen Wunsch nicht mehr erfüllen zu können. Und dann ereignete sich das zweite Wunder: Ein Händler auf dem Markt hatte zufälligerweise doch Hering im Angebot.

 

Ich muss gestehen, dass meine Fantasie mit dieser Überliefung nichts anfangen konnte, weshalb ich es nicht erwähnt habe.

 

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Mit zunehmendem Alter soll Thomas von Aquin immer häufiger Geistesabwesend gewesen sein. Bei einem Festmahl mit König Ludwig IX soll er so in seinen Gedanken versunken gewesen sein, dass er die anderen Anwesenden völlig ignorierte und der König ihm schließlich seinen Sekretär holte, damit Thomas seine Gedanken aufschreiben konnte.

 

Diese Geistesabwesenheit habe ich auf Enricas Briefe zurückgeführt. Ihre Argumente haben ihn zunehmend erkennen lassen, welche Widersprüche in seinem Denken versteckt sind.

 

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Von Anfang an hatte der Dominikanerorden den päpstlichen Auftrag Häretiker aufzuspüren und zu verfolgen. Thomas von Aquin schuf in seinem unvollendeten Werk, der Summa theologica, die theoretischen Grundlagen für die Inquisition. Die Inqusitoren des Mittelalters beriefen sich auf den Satz: „Die Annahme des Glaubens ist freiwillig, den angenommenen Glauben beizubehalten notwendig.“

Mit dem sogenannten Falschmünzer-Vergleich rechtfertigt er nicht nur die Exkommunikation sondern sogar die Hinrichtung von Häretikern.

 

Die beiden Kapitel über die drohende Hexenverbrennung von Gineva habe ich geschrieben, um die – aus unserer heutigen Sicht – irrationale Denkweise der Kirche auszubreiten. Man denke nur an das Argument, dass zum Zwecke des Seelenheils eine Lüge erlaubt ist. Beide Parteien berufen sich immer wieder auf Thomas von Aquin und beide haben recht. Thomas von Aquin widerspricht sich also auch hier.

 

Mit „Häresie“ bezeichnet man eine vom kirchlichen Dogma abweichende Lehre (Irrlehre oder auch Ketzerei).

 

Häresie war der Arbeitstitel meines Romans. Ich fand ihn doppelt passend, denn auch Thomas von Aquin wurde zeitlebens der Häresie bezichtig und ohne die Unterstützung der Päpste hätte er seine Lehre nicht verbreiten können. Schon bald nach seinem Tod wurden seine Schriften verboten.

Und natürlich ist alles was Enrica lebt, denkt und sagt Häresie! Solche Frauen gab es zu allen Zeiten, aber nach der offiziellen Lehre der Kirche, konnte es solche Frauen gar nicht geben. Und wenn es sie gab, dann waren sie vom Teufel besessen oder Hexen.

 

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